Über uns

Geschichte


Im Herbst 1990 begann – noch unter dem Namen Dr. Seltsams Frühschoppen – die Lesebühne ihr wöchentliches Programm im VEB 7 (ein Café in einem besetzen Haus der Brunnenstraße in Berlin-Mitte). Die Gründungsmitglieder waren Dr. Seltsam (eigentlich Wolfgang Kröske), Hans Duschke, Hinark Husen, Horst Evers, Bov Bjerg und Andreas Scheffler. Seit Oktober 1990 – zunächst als ständiger Gast – war Jürgen Witte mit dabei.

Im Sommer 1992 zog Dr. Seltsams Frühschoppen ins nahe gelegene Café Paz um. Im Herbst 1994 verließen Bov Bjerg und Hans Duschke den Frühschoppen. Sarah Schmidt wurde neues Mitglied. Hans Duschke kehrte nach einigen Monaten wieder zurück.

Im Herbst 1996 kündigte das Kulturhaus Mitte den Mietvertrag mit dem Café Paz und der Frühschoppen zog in die gerade eröffnete Kalkscheune um.

Im Herbst 2004 dann zog die Lesebühne in den Berliner Jazzclub, die Kunstfabrik Schlot (Chausseestraße in Berlin-Mitte) um, wo sie bis heute heimisch ist.
Im November 2004 benannte sich die Lesebühne wegen des Ausscheidens ihres langjährigen Mitgliedes Dr. Seltsam in Der Frühschoppen um.

2005

Nach dem Weggang von Sarah Schmidt im Jahr 2015 gehört seit Januar 2018 Susanne Riedel zum Team, 2020 schied Gründungsmitglied Hans Duschke aus.

aus dem Gästebuch

Der Frühschoppen bezeichnet sich selber gern als „Mutter aller Lesebühnen“, da zwischen 1996 und 2001 diverse Lesebühnen (Liebe statt DrogenChaussee der EnthusiastenSurfpoetenErfolgsschriftsteller im Schacht und Brauseboys) aus ehemaligen Mitwirkenden oder Zuschauern des Frühschoppens entstanden.

***

JUBILÄUM, Oktober 2015

25 Jahre „Frühschoppen“

von Andreas Scheffler

Es war der 28. Oktober 1990, als der Frühschoppen, damals noch präsentiert von Dr. Seltsam, vor Publikum seine erste Vorstellung gab. Wir, allesamt aus dem Westen, durften in einem besetzten Haus im Osten Berlins unsere Sicht der Dinge zum Besten geben; im Café Subversiv, dem BesetzerInnencafé in der Brunnenstraße 7 zwischen Staub und Dreck auf Sperrmüllmöbeln. Wir sammelten für „Ein Klo für die Brunnenstraße“, und unser Honorar bestand aus einem halben Dutzend Flaschen Sekt, die wir während der Vorstellung austranken.

Dass wir (Bov Bjerg, Hans Duschke, Horst Evers, Hinark Husen, Dr. Seltsam alias Wolfgang Kröske und ich) von Anfang an solchen Erfolg hatten, konnte nur oberflächlich überraschen. Einige von uns brachten Freunde aus der Uni mit, wo wir uns eine Weile mit Studentenkabarett austesteten, Seltsam hatte in der Kreuzberger Linksintellektuellenszene einen Namen, und die Presse, Zeitung wie Radio, stürzte sich gern auf diese scheinbar neue Subkultur. Zudem gaben uns die Wende, das besetzte Haus als politisches Gemeinwesen und der erste Golfkrieg genügend Stoff für bissige, komische und kontroverse Geschichten. Irgendwann offenbar zu bissig und lästerlich, denn nach einem halben Jahr flogen wir an einem Sonntag eine Viertelstunde vor Beginn der Show unter dem damals wieder sehr beliebten Sexismusvorwurf raus. Schließlich waren wir ausschließlich Männer und Jürgen Witte, der gerade zu uns gestoßen war, hatte die gerade eröffnete Beate-Uhse-Filiale um die Ecke als Kunstinstallation persifliert.

Diesen Rausschmiss – früher oder später – hatten wir erwartet und gaben unsere Vorstellung zwei Stunden später im Café Paz im Kulturhaus Mitte, wo wir unter der Obhut der liebevollen Wirtin Mara Moya auch für die nächsten fünf Jahre unser Domizil fanden. Wir lasen unsere Texte vor, wir sangen, spielten Theater und improvisierten – alles ohne zu proben. Und mit diesem „grandiosen Dilletantismus“, den uns ein Zeitungsredakteur, der uns offenbar sehr mochte, bescheinigte, kamen wir durch, spielten an jedem Jahrestag im vollen Chamäleon Theater und wurden sogar zu Gastspielen in der ganzen Republik eingeladen. Solch ein Erfolg kann anstacheln, er kann aber auch hochmütig und träge machen. 1994 verließen Hans Duschke und Bov Bjerg das Ensemble, weil sie sich mehr Experimentierfreude gewünscht hätten. 

Wir anderen machten mit Bewährtem weiter und zogen 1996, weil es uns im Café Paz zu klein wurde, in die Kalkscheune um. Duschke, der in der Zwischenzeit mit Bjerg und Manfred Maurenbrecher die „Reformbühne Heim und Welt“ gegründet hatte, dort aber nicht glücklich wurde, kam zurück und Sarah Schmidt stieß dazu. Wir machten weiter. Das Weltgeschehen und das eigene, kleine, persönliche Erleben gaben uns die Themen vor. Eine neue Lesebühne nach der anderen gründete sich. Und wir begrüßten das. Wir sahen keine Konkurrenz, denn abgesehen von unserem Termin am Sonntagmittag haben wir ein Alleinstellungsmerkmal. Bei uns können die Kollegen in den gerade gelesenen Text reinquatschen, ohne dass der Interpret am Mikrofon verreckt. Wir absolvieren den Frühschoppen nicht, wir begehen ihn, auch wenn wir heute keinen Sekt mehr trinken. 

2004 meinte der Kalkscheunenwirt aus heiterem Himmel: „Es rechnet sich nicht mehr“ und kündigte uns. Gleichzeitig nahm Dr. Seltsam, der es neben einer erfolgreichen Frau auf der Bühne nicht mehr aushielt, den Hut und schaut seitdem, wie der Pfeffer wächst. 

Heute sind wir schon mehr als zehn Jahre im Schlot zu Hause und fühlen uns wohl. Sarah Schmidt hat uns unlängst verlassen, weil sie sich aufs Romaneschreiben konzentrieren will. Wir sind nun die Alten der Lesebühnenszene. Immer mal wieder geben sich Zuschauer zu erkennen, deren Eltern schon bei uns waren. Das gibt ein gutes Gefühl und bräuchte es einen Anlass, nicht faul und träge zu werden, wäre dies einer. Tatsächlich sind wir nach wie vor nicht müde, uns über verquere Machtverhältnisse, strunzendoofe völkische Idioten, Verarschungen jeder Art und den alltäglichen Irrsinn aufzuregen.

JUBILÄUM, Oktober 2020

30 Jahre „Frühschoppen“

von Susanne M. Riedel

Donnerstag, 28.September 2017 

Mein liebes Tagebuch,

Heute war ich wieder bei der Lesebühne FürWort in Schöneberg. Als Gast war diesmal ein ziemlich schräger Vogel eingeladen, Hans heißt er. Nach der Show hat er mir erstmal eine Reihe von Ratschlägen erteilt, wie ich meine Texte besser schreiben könnte, mich abschließend aber zum Frühschoppen eingeladen. Das ist diese Lesebühne im Schlot. Gleich ab diesem Sonntag soll ich Monatspraktikantin sein. 
Na dann – das klingt interessant, ich hab einfach mal zugesagt.

Sonntag, 1. Oktober 2017

Liebes Tagebuch,

Nach einiger Funkstille hat Hans heute früh dann nochmal bestätigt, dass alles klar geht mit diesem ominösen Praktikum. Es reicht aber, wenn ich nächste Woche komme. Alle würden sich freuen.
Da ich mir ja schon den heutigen Tag frei gehalten habe, bin ich einfach mal zum Vorgucken im Schlot gewesen. Das war wirklich ziemlich lustig. Auch wenn ich zwischendurch mal dachte, dass der freundliche Moderator (ich hab seinen Namen vergessen, aber er erinnert mich ein bißchen an Dieter Thomas Heck) diesem Hans gleich an die Kehle geht. 
Der Schlot ist schön, der Kaffee gut, die Atmosphäre sehr lauschig und das Publikum durchweg sympathisch. Ein echter Wohlfühlort. Nach der Vorstellung bin ich in die Künstlergarderobe und hab mich den anderen vorgestellt. 
Bzw. Hans hat das getan:
„So, das ist Susanne, die ab nächsten Sonntag bei uns Praktikantin ist.“ 
Drei fragende Augenpaare. Ganz klar: Keiner wußte bescheid.
Die Augen sagten: Ach herrje.
Die Augen sagten: Was hat der Duschke denn jetzt wieder angestellt. 
„Aha…“ seufzte Andreas schließlich.
Na das kann ja heiter werden… 

Sonntag, 8. Oktober 2017

Liebes Tagebuch,

Frühschoppenpremiere! Yeah! Ich hatte mir vorher viele Möglichkeiten der Blamage überlegt, aber weder bin ich die Treppe raufgefallen, noch habe ich mich in meiner Schlaghose verheddert oder das Mikro umgeworfen. Es hat einfach nur Spaß gemacht.

Sonntag, 29.Oktober 2017

Liebes Tagebuch,

18:20 Uhr, die Sonne geht gerade unter, der letzte Tag meines Praktikums ist vorbei. Und halt Dich fest:  Sie gucken mich zwar immernoch ein bißchen an, als fragten sie sich, was die Katze da hereingetragen hat – aber heute haben sie mich gefragt, ob ich nicht einsteigen will ins Frühschoppenteam. So richtig. Immer. 

Ich fühle mich wahnsinnig geehrt, habe mir aber Bedenkzeit ausgebeten. 

18:30

Genug Bedenkzeit. 
Ich mach´s. 

Sonntag, 18. März 2018


Liebes Tagebuch,

Nun habe ich lange nichts eingetragen. Ich fasse mal zusammen. 
Ich lerne.
Am Anfang habe ich immernoch versucht zu verstehen, warum die so wenig miteinander reden. Dann habe ich allmählich begriffen, dass die schon irgendwie kommunizieren, ich es nur nicht immer mitkriege. Es ist ein bißchen als würde man mir einem einem fünfköpfigen Ehepaar leben, das sich seit knapp 30 Jahren kennt. Hier ein Raunen, da ein Halbsatz, der Rest sind Gesten und Blicke.  
Dann verabschieden sich plötzlich alle und ich sage sowas wie: „Hey, wollten wir nicht noch über das nächste Monatsmotto sprechen?“ Und dann gucken sie ganz konsterniert und sagen „Wieso, da waren wir uns doch jetzt einig, oder?“ 
Ich meine, ich komme aus der Sozialen Arbeit – da begrüßt man sich im erstmal im Stuhlkreis, Befindlichkeitskarten werden ausgetauscht, vielleicht ertönt eine Klangschale, und nach einer Diskussion mit ausgewogenen Redeanteilen werden die Ergebnisse in bunten Farben am Flipchart festgehalten.  

Neulich habe ich so einen Cartoon gesehen, darauf sieht man einen Mann und eine Frau im Bett liegen. 
Er fragt: War ich gut?
Sie sagt: Demnach ist das jetzt schon der Sex gewesen? 

Daran muss ich jetzt manchmal denken. Dann denke ich 
„Demnach ist das jetzt schon die Kommunikation gewesen?“

Ich lerne. Und dabei habe ich ja gar nicht so schlechte Voraussetzungen. Allein unter Männern, das ist mir vertraut. Ich lebe mit Mann und zwei Söhnen zu Hause. Unvergessen die Szene am Abendbrottisch, als ich fragte „Na, Jungs, wie war Euer Tag?“ und der Kleine flüsterte ängstlich „O Gott, Papa, jetzt will sie wieder reden.“ 
Das rufe ich mir manchmal beim Frühschoppen in Erinnerung. 

Vielleicht nehme ich trotzdem mal eine Klangschale mit. 

Sonntag, 25.03.2018

Auch die Autokorrektur meines Smartphones lernt. Aus dem Wort „Du“ will sie jetzt immer „Duschke“ machen. Schreibe ich „zum Lachen“, schlägt sie „in den Keller“ vor. 
Nur bei „Horst Evers“ will sie immer noch auf „Horst Everest“ korrigieren. 

Sonntag, 1. April 2018 

Hinark sagt, Klangschalen sind der Rohrstock der modernen Pädagogik.

Montag, 31.12.2018

Ein Jahr Frühschoppen. 
Gestern hat John das erste Mal nicht „Hey Neue“, sondern „Susanne“ gesagt. Auch auf der Bühne werde ich immer seltener als Sabine vorgestellt. Es wird. 

Dienstag, 31.12.2019

Zwei Jahre Frühschoppen. Ich bin angekommen. 

Ab und zu beschwert sich meine Familie, dass ich so wenig reden würde. 
So what.

Sonntag 8. März 2020

Heute haben wir eine Klorolle verlost Alle reden über Corona, in den Läden wird gehamstert, verrückte Zeit. Wir bleiben gelassen. So schlimm wird´s schon nicht werden.

Sonnabend, 14. März 2020

Die Infektionszahlen explodieren. Mail vom Schlot. Sie schließen ab sofort, bis voraussichtlich 20. April.  

Sonntag, 6. September 2020

Der erste Auftritt seit 6 Monaten. 
Das Publikum trägt uns mit einem warmen, nicht enden wollenden Applaus auf die Bühne. Das lässt keinen von uns kalt. Nach kurzem Ringen mit den Tränen der Ergriffenheit starten wir das Programm. Ein Hauch wohltuender Normalität legt sich über den Nachmittag. 

Hans ist nicht mehr dabei, der leere Platz ist noch sehr ungewohnt. Auf der Bühne gibt es niemanden mehr, dem ich unterm Tisch vor´s Schienenbein treten will. Manchmal sind es seltsame Dinge, die einem fehlen. 

Sonntag, 4. Oktober 2020

Wir haben uns entschieden, das Jubiläum trotz aller Unsicherheiten zu feiern. Oder – gerade deshalb. 
Da ich bei den letzten Jubiläumsveranstaltungen nicht dabei war, habe ich gefragt, was denn an dem Tag anders ist als beim normalen Frühschoppen. 
Die Antwort kam synchron: Jürgen trägt keine Strickjacke. 

Samstag, 17. Oktober 2020

Morgen ist es soweit. Ich bin aufgeregt. Und ich hab nichts anzuziehen. Also eigentlich alles wie immer. 
30 Jahre Frühschoppen. Unglaublich. Herzlichen Glückwunsch, liebe Kollegen! 10% davon war ich dabei, es ist mir eine Ehre. 
„Ist denn ein bißchen Sentimentalität ok?“ habe ich beim Vorbereitungstreffen gefragt. „Alles ist erlaubt“ antwortete Horst, und Andreas ergänzte: „Wir haben das beste Publikum der Welt. Die verzeihen uns alles.“

Darauf kann ich jetzt nur hoffen.